I
Die Welt, in der wir leben, ist rätselhaft. Nicht nur in dem Sinne, daß es noch ungelöste Rätsel gibt. Die Welt ist rätselhaft von Grund auf. Sie birgt Geheimnisse, die wir nicht entschleiern und nie entschleiern werden. Dies liegt nicht an den Schranken, die unserer Sinnes-Erfahrung gesetzt sind, auch nicht an unserem denkerischen Unvermögen. Der Widerspruch gehört vielmehr zum Wesen der Welt. Wir können nicht über unseren Schatten springen, wir können uns nicht außerhalb des Ganzen stellen. Niemand kann das. Was wir wissen ist dies, und schon dies ist ein Widerspruch: Daß wir frei sind in unserem Tun und Lassen und daß wir von unbekannten Mächten in uns und außer uns bestimmt werden, daß uns vollkommene Autonomie nicht gewährt ist, es sei denn im Tode. Aber auch dies ist ungewiß.
Für jenes Unfaßbare, für die lichten wie die dunklen, die schöpferischen und die zerstörerischen Gewalten, die in uns und mit uns ihr Spiel treiben, stehen seit früher Zeit die Namen der Götter. Die Götter-Welt, das bemerkte schon Xenophanes, ist in Analogie zur Menschen-Welt gebildet. Wir sind zu solcher Prägung berechtigt, weil die kosmischen Gewalten in uns wirken. Wir haben an ihnen teil. Was in Tieren, Pflanzen und Elementen geschieht, ist nicht wesensverschieden von dem, was in uns geschieht. Zugleich reichen jene Mächte über uns hinaus ins Unbegreifliche. Die antike Heilkunst faßte diese Beziehung in den Satz: „Alles hängt von mir ab, und ich hänge an einem Faden.“
Die Götter wirken in doppelter Weise: Sie sind hilfreich und furchtbar. Sie spenden Segen und Schrecken. Mehr noch: Sie spenden beides in einem. Es kommt in allem auf das Maß an. Es gibt keine guten Götter. Wo die Götter übermächtig werden, vermag der Mensch ihrer Gewalt nicht standzuhalten. Die Erde bebt. Der Blitz erschlägt. Die Flut bricht die Deiche, der Sturm verwüstet Garten und Gehöft.
Die Götter zerstören auch von innen heraus: Holder Wahn schlägt um in schlimmen Wahn, die Lust an Wettkampf und Ruhm wird zur Raserei des Berserkers, in den großen Götterschlachten entscheidet sich, wer die Gewichte der Welt bestimmt, wen die Lohe verschlingt.
Furchtbar ist das Übermaß, furchtbarer die Abwesenheit. Wo die Götter sich zurückziehen, wächst die Wüste. Das ist in den Zeiten des Übergangs der Fall. Dies sind die Epochen des verweigerten Opfers, der schrecklichen Säuberungen, der Abbrüche bis zum Grund.
II
Die Verbindung zwischen Göttern und Menschen wird von altersher durch das Opfer gestiftet. Der frühe Mensch brachte dem Baum, den er fällte, dem Tier, das er tötete, vorher ein Opfer dar. So versuchte er die Götter günstig zu stimmen und zu versöhnen. Denn menschliche Schöpfung ist immer auch Frevel, ein Sich-Vergreifen an der Natur. Und die Götter, man weiß es, haben ihre Launen und blicken voller Argwohn auf unser Tun. „Mir grauet vor der Götter Neide“, heißt es im „Ring des Polykrates“.
Das Opfer hat verschiedene Gestalten, je nach der Gottheit, an die es sich wendet: Es steigt als Rauch zum Himmel, es wird als Korn und Traube der Erde dargebracht, es fließt als Tier-Blut oder Menschen-Blut, es wird aus der Fülle der Tage und Stunden abgezweigt als Fasten-Zeit oder Schweige-Zeit. Wichtig ist die Spende: Man weiß sich vom Ganzen getragen, man gibt an das Ganze ab. Man opfert ein Glied, um am Leibe gefeit zu sein.
So ist das Opfer zunächst ein Zoll des Dankes und der Ehrfurcht. Aber wer im Opfer nur den Verlust sieht, hat seinen Sinn nicht begriffen. Das Opfer ist die Triebkraft schöpferischen Lebens überhaupt. Hierauf weist die alltägliche Wirklichkeit hin und, auf erhöhter Stufe, die Mythologie: Die Schlange streift ihre Haut ab, um sich zu verjüngen, das Samenkorn wird in die Erde versenkt, damit es Frucht bringe, die Rebe, die man beschneidet, bringt reicheren Wein. Der Phoenix, der alle fünfhundert Jahre im Tempel zu Heliopolis einkehrt, verbrennt sich selbst auf dem Sonnen-Altar, Odin opfert sein Auge am Quell und gewinnt so die höhere Schau, Tammuz-Adonis vergießt sein Blut auf die Frühlings-Flur: aus ihm werden Blüten geboren.
Das Opfer dient auch als Einübung für die Prüfungen des Lebens, es ist Modell, Gleichnis der Gleichnisse, höchst ernsthaftes Spiel: Im Initiations-Ritus wird beispielhaft erlebt und erlitten, was das Leben für uns bereithält: Wir stimmen uns ein auf das Unverhoffte: auf die Götter, aber auch auf den Schmerz. Die Welt wird als Ganzes erfahren.
Erfahren: nicht nur vorgestellt oder erzählt. Dies führt zum letzten Sinn des Opfers: dem Sinn in sich selbst. Im Opfer geschieht die magische Hochzeit von Himmel und Erde, es ist erfahrene Ewigkeit, erfüllter Augenblick. Das Opfer hält die Welt im Gleichgewicht. Das Opfer verbürgt die Wiederkunft der Götter.
III
Wir nahen den Göttern in Stolz und Demut. In Stolz, weil wir gottgleich sind. In Demut, weil wir es nur zuweilen sind. Demut ohne Stolz führt zu knechtischer Unterwerfung. Stolz ohne Demut führt zu Hybris und Sturz.
Decadence ist nichts als der Verlust des Opfers. Daß man den Göttern keinen Dank mehr zu schulden glaubt und auch der Erde nicht. Damit wird das Band zwischen Mensch und Himmel, zwischen Mensch und Erde zerrissen. Als Frevel des einzelnen ist dieser Vorgang alt, Mythos und Märchen stellen ihn dar: Marsyas, der mit Apollon in der hohen Kunst wetteifert, wird von diesem aus der Haut geschält, Niobe rühmt sich vor dem Gott ihres Kinder-Segens, ihre Söhne und Töchter fallen seiner Rache anheim. Noch schrecklicher ist das Los jener, die nicht durch übermütige Reden, sondern durch verbrecherisches Tun den Zorn der Götter reizen. Sie sind in der Unterwelt zur unendlichen Wiederholung ein und derselben Handlung verdammt. Sisyphos, der den Stein wälzt, bietet das classische Beispiel. Durch solche Bilder suchten die Alten vor dem Übertreten des Gesetzes zu warnen. Hesiod verknüpft den Untergang des Goldenen Zeitalters mit der zunehmenden Mißachtung göttlicher Gebote.
In der späten Großstadt-Civilisation – für uns zuerst erkennbar im römischen Kaiserreich – wird das verweigerte Opfer zum Massen-Phänomen. Es beginnt bei den geringen Dingen: Man bricht aus dem Festkreis des Jahres aus, man versagt die Spenden und rituellen Reinigungen, man hält die Fasten-Zeiten nicht mehr ein, der Cultus der Ahnen gerät in Verfall, man lebt für den Augenblick. Alles drängt in die Stadt, die Äcker veröden. Niemand ist mehr bereit, sein Vaterland mit der Waffe zu verteidigen, fremde Söldner tragen diese Last, Sclaven verrichten den profanen Teil der täglichen Arbeit, Luxus und Bequemlichkeit breiten sich aus, vielleicht daß man noch auf Reisen geht, um die Sinne zu beleben.
Aber die Nemesis ist unbestechlich. Die Welt ist auf Ausgleich hin eingerichtet, auf Gnade und Recht. Alles hat seinen Preis, und wer ihn nicht vorher zahlt, zahlt ihn post festum mit Zins und Zinseszins.
Das nicht vollbrachte Opfer verlagert sich aus der Ewigkeit des Augenblicks in die Unendlichkeit der Zeit. Es äußert sich körperlich als schleichende Krankheit und langsames Siechtum, seelisch als Gewissensbiß, Schuldgefühl, Selbsthaß, unaufhörliche Buße und Reue. Dem entsprechen die Drohbilder des Mythos: die Hölle als unendliche Wiederkehr des gleichen schlimmen Geschehens. Ahasver wandelt ruhelos auf Erden umher, der Fliegende Holländer muß bis zum Jüngsten Tag durch die Weltmeere segeln. Dem Frevler bleibt die Erlösung verwehrt.
Von dieser Erkenntnis geht das Christentum aus, doch hat es sie gleichzeitig pervertiert, indem es den Menschen und das Leben überhaupt für sündhaft erklärt. Lösung, Erlösung sei auf Erden nicht möglich. So wird, was nur für gewisse Epochen und Existenzen gilt, zur Daseins-Formel schlechthin und offenbart sich als ein Werkzeug des Ressentiments, des Rache-Gelüsts der Schlechtweggekommenen, wie Nietzsche sie nennt, an den Wohlgeratenen, denen die Lust am Dasein, das Hoch-Gefühl der eigenen Macht und Schönheit verdächtigt und genommen werden soll. Ein gesellschaftliches Crisen-Phänomen – der Zerfall der antiken Cultur – wird personalisiert und ins Kosmische aufgebläht. Jene Tendenz war im Judentum von vornherein angelegt. Das Alte Testament ist das Buch der offenen, das Neue das der subtilen Rachsucht. Eine solche Gesinnung, an sich der Trost unterdrückter Völker und unglücklicher Individuen, findet im untergehenden Römischen Reich den fruchtbaren Boden, auf dem sie zur Menschheits-Religion gedeihen kann.
Zwar stellt das Christentum einen Versuch der Bewältigung menschlicher Ur-Conflicte dar, und es hat eine Reihe von Ritualen entwickelt, die der Läuterung und dem Heil dienen, aber es hält, medizinisch gesprochen, eine Therapie bereit, wo Prophylaxe erforderlich wäre – eben das vorher gebrachte Opfer. Und es maßt sich an, alle Menschen seiner Zuständigkeit zu unterstellen, ohne zu fragen, wem es fromme und wem nicht. So auch gleicht es einem Arzt, der als Universal-Mittel gegen die Liebe die Castration verordnet.
Immerhin ist im Christentum der Sinn für das Opfer noch nicht verlorengegangen. In Christi Tod am Kreuz, in den Leiden der Märtyrer, aber auch in den Wunden, die die Christen ihren Opfern zufügten, hat sich die Größe des Evangeliums mit Blut bezeugt. Und hierauf beruht im Letzten die Macht, die es über beinahe zwei Jahrtausende bewahrt hat.
IV
Blut muß fließen, eigenes und fremdes (aber gibt es fremdes Blut?), sonst geschieht nichts. Keine Schwinge wird sich regen. Kein Gott tritt ein.
Wer dies barbarisch nennt, sollte bedenken, daß die moderne Gesellschaft das Tier- und Menschen-Opfer nicht abgeschafft hat, sondern abgedrängt, zeitlich und räumlich und vor allem aus dem Bewußtsein. Das Quantum an Schmerz, die Summe der Leiden ist gleich geblieben, vielleicht größer geworden, sie wird nur anders benannt und verteilt.
Man spricht nicht mehr von „Opfer“, sondern von „Lasten-Ausgleich“ und „Sicherheits-Risiko“, an die Stelle der „Erlösung“ ist die „Endlösung“ getreten, Tiere werden nicht mehr auf Altären den Göttern geweiht, sondern „industriell produziert“ und „industriemäßig verwertet“. Abgesehen von diesem Sprach-Verfall, der in der Geschichte ohne Beispiel ist, hat die Neuzeit, als das End-Stadium des christlichen Weltalters und Vorspiel einer unbekannten Zukunft, manches mit der Spätantike gemein. Zunächst dies: daß die Lasten, die das Dasein uns aufbürdet, die Tribute, die es uns abverlangt, aus dem Zentrum an die Peripherie verlagert werden, ins Unsichtbare, auf jene, die stumm und wehrlos sind: auf die Ungeborenen, auf die Menschen in fernen Ländern, auf die Pflanzen und Tiere, auf die vergifteten Wälder, Flüsse, Seen und Meere.
Aber natürlich werden wir auf diese Weise die Götter nicht hintergehen. Sie walten mitten unter uns und nehmen sich wahllos, was ihnen verweigert wird.
Das nicht erfüllte Opfer wird eingefordert: es trägt nur andere Masken und Namen, es befestigt eine neue Ordnung in der Zeit und im Raum, die Ordnung statistischer Gesetze. Es verlagert sich zeitlich aus dem cultischen Ablauf des Jahres in die Beliebigkeit der Stunde: Schmerz und Tod treffen uns ohne Vorbereitung, ohne Weihen, zugleich dehnt sich der Vorgang des Sterbens ins Grenzenlose aus. Das Opfer verlagert sich räumlich vom Opfer-Altar und aus der Bannmeile des sakralen Bereichs an die Beliebigkeit des Ortes, der von je zu je zur Tabu-Zone erklärt werden kann, sobald an ihm geblutet oder gestorben wird. Man räumt die Reste weg, man schüttet Sand darauf, und die Maschine wird wieder in Gang gesetzt.
All das fällt weitgehender Verleugnung anheim: Was auf Autostraßen und Krebsstationen, auf Schlachthöfen und auf Schlachtfeldern täglich geschieht, was sich an Folter-Szenen in Folter-Kellern und im Familien-Alltag abspielt, erscheint zumeist in der Anonymität der Statistik, als ein Vorgang, der den einzelnen nicht betrifft. Das hat weitere Schäden zur Folge: Die wachsende Zahl seelisch Kranker, die Zunahme der Selbstmorde, Ängste und Neurosen kennzeichnen die Sozial-Pathologie der Gegenwart. Dem gesellt sich die allgemeine Verantwortungslosigkeit: Niemand will mehr für seine Taten einstehen. Daß man sich andererseits mit den geistig Behinderten, den politisch Verfolgten und den Hungernden in der »Dritten Welt« emphatisch identifiziert, ist nur die Kehrseite der Medaille, eine andere Art von Ausflucht, so wie die traditionsfeindliche Avantgarde und das historistische Zitaten-Spiel beide den Ausdruck einer Cultur bilden, die keine Zukunft hat.
Mit dem Verfall des Opfers kommt die Tugend des Schenkens und des Sich-Beschenken-Lassens mehr und mehr abhanden. Daß Geben seliger denn Nehmen sei, ist eine Maxime, die auf Unverständnis stößt. »Den Göttern opfern«: in dieser Bindung lebt noch Casanova, wenn er dem Amor opfert. Wir wollen alles haben, und wir wollen es sofort, ohne Opfer irgendwelcher Art zu bringen. Hierher gehört auch die Unfähigkeit zu sterben. Man besitzt die Ewigkeit so wenig wie man den Augenblick besitzt. Dies wiederum äußert sich in der Hast, mit dem man Orte und Partner wechselt, in dem Unvermögen zu verweilen, dem Unvermögen zur langsamen Gebärde, zum langsamen Blick und damit, letztlich, zum Glück.
Wo dieser Zustand zum vorherrschenden wird, sind auch die passenden Theorien zur Hand. Eine davon ist die Evolutions-Lehre mit ihren Spielarten. Da mit dem verweigerten Opfer auch der erfüllte Augenblick entschwindet, wird das Ziel allen Strebens an das Ende der Zeiten verlegt, wo dann der Messias erscheinen oder das Paradies auf Erden erblühen soll. Man schaut die Gestalten der Natur nicht mehr in ihrem Sein, sondern sucht sie aus ihrem Werden zu erklären. Aber indem wir das Wunder in die Zeit projizieren, indem wir die Dinge in ihre Teile, den Weg in Schritte zerlegen, sind wir aus dem Ganzen gefallen. Wir haben es aufgelöst. Und schließlich fügt sich zur Verweigerung auch, daß man das Opfer, wo es noch vollbracht wird, verdächtigt und zersetzender Analyse unterwirft. Das Genie auf der Couch, der Heldentod als psychologisches Curiosum. Wer noch an Götter glaubt, gilt als verrückt.
Dies alles wird gehen, solange es geht. Man vergesse doch nicht, daß wir in einer geschichtlichen Schönwetter-Periode leben, die morgen schon zu Ende sein kann. Die Weltkriege, Auschwitz und Hiroshima sind nur der zugespitzte Ausdruck dessen, was in der technischen Civilisation Tag für Tag an unfreiwilligen Opfern gebracht wird, zumeist von einzelnen, und man läßt sie allein in ihrem Unglück, das sie kaum als Chance und kaum als göttliche Gerechtigkeit erkennen. Doch um den Ernstfall kommt niemand herum. Es wird ein Erwachen geben, und es wird schrecklich sein. Wohl dem, den es nicht unvorbereitet trifft.
V
Es wird schrecklich sein. Vielleicht aber wird es auch … heiter sein, wie die Heimkunft aus einem wüsten Traum? Denn das verweigerte Opfer bezeichnet nur eine Tendenz des geschichtlichen Augenblicks. Wir dürfen die Perspective wechseln. Der Mensch ist ein vielfaches Wesen. Und die Welt wäre längst untergegangen, wenn es nicht Kräfte gäbe, die auf ihren Bestand hin wirkten.
Da ist zum einen die Langmut der Natur, von der wir ein Teil sind und die uns ein Lehen gewährt. Hinzu kommen die zahllosen kleinen täglichen Opfer, von denen die Welt seit jeher lebt. Keine Gemeinschaft, keine Dauer, kein großes Werk ist möglich ohne die Taten der Lebens-Erhaltung, der Fürsorge, der Liebe. Sie sind der Muttergrund für all unser Tun, die Refugien des Opfers, wenn man so will.
Aber auch der Zusammenhalt im Großen, das Überwiegen der Ordnung gegen die Anarchie wird durch das Opfer bewirkt. Eine Idee, eine Gemeinschaft, eine Gottheit ist so lange lebendig, wie jemand für sie zu sterben bereit ist. Und nur wer Opfer bringt, ist auch Opfer zu fordern berechtigt. Hieraus begründet sich der Legitimitäts-Anspruch jeder Herrschaft. Der Führer geht voran. Er trägt die schwerste Last. Er setzt das Zeichen. Er fällt bei der Fahne. Ist das Selbstlosigkeit? Nietzsche hat tiefer geblickt: »Das ist die Hingebung des Grössten, dass es Wagnis ist und Gefahr und um den Tod ein Würfelspielen…« Leben opfert sich um Macht.
Macht bedeutet: über die Symbole der Herrschaft und über den Ritus des Opfers zu gebieten. Ihre Legitimität geht in dem Maße verloren, wie der formale Charakter der menschlichen Beziehungen zunimmt. Mit dem Vertrag beginnt der Zerfall. Herrschaft wird durch Verwaltung ersetzt. Die Figuren an der Spitze werden austauschbar, der Durchschnitts-Typus setzt sich durch. Heutzutage ist durch Rechts-Anspruch geregelt, was der einzelne dem Staat zu opfern habe und was dieser ihm schuldet. Man denkt an das chinesische Wort, daß Reiche, die zugrunde gehen sollen, viele Gesetze haben.
Denn das erzwungene Opfer ist nicht mehr wert als das verweigerte Opfer. Was bleibt, ist die Fülle der elementaren Kräfte und Leidenschaften, die im freien Raum schweifen und kein Ziel finden. In das Sinn-Vakuum, das die überlieferten Religionen hinterlassen haben, stoßen radicale Ideologien vor. Die Weltanschauung des Communismus oder des Nationalsozialismus mag uns unverständlich sein. Aber die Macht solcher Bewegungen liegt nicht in ihren Theorien. Sie liegt im Elementaren, in dem Blut, das für sie fließt. Erst in heutiger Zeit verbraucht sich das heroische Potential, das die Sowjetunion aus den Opfern der Revolution und des Zweiten Weltkriegs gewann, und es bedarf neuer Anstöße, um das Ganze in Gang zu halten.
Dies fällt den herrschenden Mächten immer schwerer. Sie können es letztlich nur durch den Krieg. Da aber die technische Civilisation auch dem Krieg die Aura des Opfergangs geraubt hat, müssen sich die Aggressionen nach innen kehren. Die Welt als Ganzes wird befriedet, aber die Tendenz zum Weltbürgerkrieg nimmt zu. Dafür gibt es heute schon Anzeichen. Vielleicht lassen sich Regeln für ihn entwickeln wie für den Stierkampf in Spanien oder für die Cirkus-Spiele im Alten Rom. Wohin das alles führt, ist freilich nicht abzusehen. Wichtiger auch wäre, bei den Mächtigen selbst durch eine Stufen-Folge von Initiationen den Sinn für das Opfer wachzuhalten. Auch dieses Ziel ist noch fern. Die Zukunft zeigt sich vorerst in sehr vieldeutigen Symbolen am Horizont. Sie zu deuten und sich auf sie einzustimmen, gehört zur Traum-Aufgabe.
VI
So wie das alltägliche Opfer seine Domänen behauptet, besitzt auch das hohe Schau-Opfer seinen zeitlosen Rang. Wo Politik und Religion ihren mythischen Anspruch verlieren, wird das Opfer im großen Stil durch den Künstler zelebriert.
Der Genie-Cultus, der im 16. Jahrhundert mit Michelangelo beginnt, stellt den ersten und mächtigsten Aufstand gegen den Verfall des Opfers dar. Allerdings ist mit ihm auch eine Verzeichnung verbunden. Es ist zunehmend nicht mehr der Künstler als Schöpfer, sondern der Künstler als Opfer, der Beachtung findet. Er tritt an Stelle des Stiers vor den verwaisten Altar, er inszeniert seinen Untergang: Er fällt in Wahnsinn, wie Hölderlin oder Nietzsche, er gewinnt aus Rausch und Krankheit seine Erleuchtung, wie Baudelaire, er schneidet sich ein Ohr ab, wie van Gogh, oder er schießt zuletzt wild um sich und läßt sich mit dem Schwert enthaupten, wie Mishima.
Die Idee, die im Hintergrund steht, die Vision, für die jemand sein Blut zollt, wird dabei bedeutungslos. Wir wissen es doch: Daß jemand für einen Wahn sein Leben gibt, ist kein Argument für die Wahrheit dieses Wahns. Es ist trotzdem ein Argument, ein absolutes Argument, vor dem der Pragmatismus zu schweigen hat. Nicht das Vorzeichen zählt, sondern der Betrag.
Freilich stellt das reine Opfer, das L’art-pour-l’art des Opfers, die Kehrseite des reinen Pragmatismus vor. Es ist weniger Aktion als Reaktion. Es ist so negativ wie der Kreuzes-Tod. Wir wollen es trotzdem nicht gering schätzen. Das erfüllte Opfer bestätigt den Primat der Entscheidung vor der Psychologie. Es ist ein Akt der Freiheit, die sich im Tode bewährt.
Es ist ein Äußerstes, aber es ist nicht alles. Das Opfer als unverzichtbar für die Kunst, aber nicht: das Opfer an Stelle der Kunst. Jede Kunst ist auch Opfer, aber: Sich-Opfern ist noch keine Kunst. Nicht die Kunst als Opfer ist gefragt, sondern das Opfer als Kunst.
Der alte Spruch heißt ja nicht: Wer wagt, verliert, er heißt: Wer wagt, gewinnt. Es geht um die Einheit von Zeichen, Opfer, Schöpfung und Spiel. Dies meint das Wort von der »Heiterkeit« der Kunst. Auch in den vollkommenen Herrschafts-Formen ist diese Einheit gewahrt. Das Frankreich des Sonnenkönigs gibt eine Ahndung davon. Das Opfer ist ein hoher Zwang und bekräftigt unsere Bindung an Ordnung und Gesetz, aber zugleich verheißt es uns Freiheit, Leichtigkeit, Teilhaberschaft an Götter-Glück und Götter-Spiel.
Hier schlägt sich der Bogen zum Beginn. Blut muß fließen, wurde gesagt, sonst gedeiht kein Werk. Aber der Künstler opfert sich nicht auf den Trümmern der zerstörten Tempel oder am Kreuz, das der Erlöser verließ. Er ist der Phoenix, der sich im Feuer verjüngt. Er ist der Rebstock, der, verwundet, nur um so reicher Früchte treibt, und er ist der Winzer, der den Schnitt besonnen führt. Sein Opfer ist aufgehoben im Werk, das, als Zeichen und Gestalt, seinen Schöpfer überragt und überdauert. So zeugt er vom Welt-Geheimnis, so bleibt er im Bündnis mit dem Ganzen, mit den Göttern:
in: Schwarzer Apollon, S. 136
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