I
Atem. Das ist der Anfang. Da strömt es her. Dahin kehrt es zurück. Oder besser: Odem? Was stellen wir an den Eingang, der auch der Ausgang ist: das strahlende, klare oder das ältere, dunklere Wort? Atem: das ist Arché und Ananke, Atem, Abend, Asen, Altar und Arnshaugk. Odem führt uns hinab in die Tiefe: in die Wölbungen der Brust, zum Ursprung, zum Tode, zum Muttergrund, zu Urne und Schoß. Und dann der Einklang: Apollon, Adonis, Arom. Atem und Odem – Aleph und Om: in zwei Wörtern liegt schon alles beschlossen, was den Dichter bestimmt.
II
Woher kommt es? Jeder Vers, den wir finden – der uns findet – setzt die ganze Welt voraus. Wir können ihn rufen, wir können den Boden für ihn bereiten, aber wir können ihn nicht erzwingen. Wir bringen vieles an Rüstzeug mit für die hohe Jagd: Erfahrung, Geschicklichkeit, Werkzeuge, Waffen. Am wichtigsten ist die Geduld, das Warten-Können, das Wachsein vor dem Namenlosen. Erst wenn das Gegenüber antwortet, wenn der Gott in das Gedicht eintritt, ist unser Werben erhört.
Woher kommt es? Aus dem Ganzen, das wir nicht fassen können und das sich nur dem Opferndem schenkt. Vielleicht gibt es nur einen Autor, der in allem wirkt, auch in den Wörtern, die wir wählen. Am Ende haben wir keine Wahl. Wir sind schon erwählt oder nicht. Für jeden Text stellt sich die Homerische Frage. Unser Eigenstes ist am wenigsten unser Eigentum.
III
Zur Frage, woher man es hat, kommt die andere: wohin geht es. »Für wen schreiben Sie?« Der Dichter als Vox popoli und der Dichter als morbider Narziß. »Ein Buch für Alle und Keinen« nannte Nietzsche den »Zarathustra«. Und von Schopenhauer stammt der Satz: »Die Kunst ist überall am Ziel.«
So spricht der Dichter in letzter Instanz – aber nur in dieser und also niemals – für alle. Dies trägt ihm Anbetung und Haß ein. Anbetung, weil in seinem Wort ein Abglanz des Göttlichen lebt, dessen Bild wir alle sind. Haß, weil jene, die sich in seinem Spiegel erblicken, ihres Unvermögens leidend inne werden. Der Dichter gibt vielen das Recht, »sich durchzustreichen«, wie Nietzsche sagt. Sie freilich verharren in Taubheit vor dem Anruf des Schicksals und streichen lieber ihn durch. Aber auch dies gehört zu seinem Los. Er ist beides: Adler und Lamm. Er ist, auch im Opfer, der Eine, der für Alle steht.
IV
Die Welt ist allen gemeinsam, und die Zeichen sind es auch. Die Welt ist Wiederkunft, Rhythmus, Gesetz. Wo wir auch ansetzen, wir spüren Harmonien auf. Die Welt ist schon Dichtung vor allem Wort.
Aber die Welt ist gezeichnet. Sie trägt die Stigmen von Trauer, Schmerz, Tod. Sie bedarf der Erlösung durch das Wort.
Diese Spannung ist in den Sätzen ausgedrückt: »Um den Gott herum wird Alles Welt« und »Also hat Gott die Welt geliebt, daß er ihr seinen eingeborenen Sohn gab.« Wir müssen uns als Zeichen setzen. Allein der ganze Einsatz zählt.
Die Welt ist Dichtung, aber nur dem Dichter wird sie zum Gedicht. »Ecce homo« — »Siehe, welch ein Mensch«: dieses Wort konnte nur zu dem Sohn Gottes gesprochen werden.
V
Der Dichter ist der Bote der archaischen Welt, in der alles heilig war: Pflanze, Tier, Stein und Gestirn. Er greift zurück auf die Elemente, er schöpft aus dem Quell. Er greift aber auch vor: er weiß von Göttern und Götterdämmerung: er formt die Dinge vom Ende her. Der erste Dichter ist wie der letzte: Stier, der sich opfert, Aion, der spielt.
VI
Das erste sind nicht die Wörter: auf die kommt man spät. Im Anfang war Klang. Der tönende Muttergrund, der uns trägt: Quellengemurmel, Wipfelgerausch. Dann die Stimmen der Tiere: Lockrufe, Schmerzens-Schreie, Bienen-Gesumm, das Brüllen des Löwen, das Röhren des Hirschs: Brunst und Gewalt. Und es gibt den geheimeren Weg: die Gabe der Weissagung ist manchen Fischen, Reptilien und Vögeln verliehen. Sie verliert sich im Bereich der höheren Wirbeltiere. Nur der Delphin und der Mensch haben Teil an jener Mitgift. Sie sind auch die einzigen Säuger, die singen. Dem folgen die Scheidungen innerhalb der Art: Sänger, die Seher sind, findet man nicht auf den Märkten und in den Tavernen. Brüder in Bacchus hat man viele, kaum Brüder in Apoll.
VII
Sibyllen, Propheten. Sie sind die Vorläufer des Dichters. Er hebt sie in sich auf. Träume kann jeder haben, Visionen auch. Der Rang des Dichters bestimmt sich durch die Ausdrucks-Mittel, über die er gebietet. »Kunst« kommt von »Können«. Kunst ist Form. Auch der Unterschied zwischen bezeichnen und beschwören ist hier angesprochen: Bezeichnen heißt adeln, beschwören heißt heiligsprechen. Alles ist heilig, adlig ist nur, wer von Adlern stammt.
VIII
Der erste Dichter ist Orpheus. Er war in der Unterwelt, bei den Müttern. Von ihnen übernahm er das Seher-Amt. Aber er ist auch jener, der von der Erde zum Himmel steigt. Er ist der Adler im Schlangen-Maß. Auf hohen Bergen hat er seinen Horst. Er tritt aus der Gebundenheit heraus, er fügt Muster, baut Modelle, er setzt Zeichen, die er wieder löscht. Sein Gesang ist auch Geist, ist Luxus, ist Spiel. Ihm erst gewährt sich das freie, beflügelte Wort.
IX
Der Raub des Goldenen Vlieses ist der Beginn – ein Beginn – aller Dichtung. Jason der Widder-Mensch tritt ein in die Stier-Welt und vereinigt das Amt des Sehers mit dem des Sängers. Chiron, der weise Kentaur, huldigt ihm wie dem Orpheus als Stiftern des neuen Heils. Der Dichter ist Widder, auch der Stier- oder Zwillings-Geborene. Darum mag es kein Zufall sein, daß unter den Stern-Zeichen der großen Dichter das des Widders dominiert.
X
Der Seherin sind die Pflanzen heilig: Wermut, Alraune, Mistel, Soma und Mohn. »Mohn« und »Mond«: das reimt sich fast. Dem Zögling Apolls sind die Schwebenden gesellt: Drache, Schwan, Pfau, Adler und Greif. Das Gedicht steht über der Welt.
XI
Der Dichter ist kein Weib. Er ist Mann. Aber er ist ein Weibgewesener, wie Loki, wie Teiresias. Denn von der Schlange kommen wir, immer. Ihr halten wir die Treue. Apollon ist nicht der Töter der Schlange, er ist ihr Herr und Meister.
XII
Das Gedicht ist das Erwachen aus dem Traum, den die Sibylle träumt.
XIII
Einäuglein, Zweiäuglein und Dreiäuglein. Das Märchen läßt nur das Zweiäuglein gelten und tadelt die anderen wegen ihres Hochmuts. Aber es ist zu vermuten, daß hier das Mittelmaß den Wert festsetzte.
Einäugig ist der Täter. Einäugig ist der Cyclop. Der Beobachter sieht stereoskopisch, er nimmt die Perspectiven wahr. Wir sollten ihn nicht verachten. Er ist Meister auf seinem Gebiet. Der Seher ist wiederum einäugig, aber auf andere Art: er sieht mit dem Stirn-Aug, dem inneren Aug. Zwei Augen müssen geschlossen sein, damit das dritte sich öffne. In einem späten Fragment Hölderlins steht der Vers:
XIV
Der Gesang der Sirenen ist ein Problem für Odysseus, nicht für die Sirenen, nicht für uns. Und was liegt an einer Dichtung, die nicht auch Sirenen-Gesang ist?
XV
Der Dichter ist auserwählt, androgyn und national. Er ist erwählt, weil das Genie zu den angeborenen Verdiensten zählt. Er ist androgyn, denn in seiner Seele geschieht die chymische Hochzeit von Adler und Schlange, Mann und Weib. Und er ist national, denn er lebt von der Sprache und Mythologie seines Volkes. Dem entsprechen drei Weihen und drei Tabus. Durch jene wird der Erkorene geadelt, durch diese der Unberufene erschreckt.
XVI
Der Wissenschaftler ist Reductionist. Er führt die Zeichen auf Ziffern, die Qualität auf Quantitäten zurück. Der Dichter geht den umgekehrten Weg. Er reichert die Dinge mit Bildern an. Er belehnt sie mit dem Purpur seines Traums. Wagners Gral ist mehr als Wolframs Gral.
Lanza del Vasto schrieb die Verse:
Aber auch der Fisch ist ein Bild.
XVII
Philologen, Heraldiker. Das Hand in Hand von Sammler-Fleiß und Deuter-Cretinismus. Freilich: Wer zum Dichter-Amt berufen ist, sammelt nicht, sondern nimmt sich aus der Fülle, was er braucht. Er führt den Greif im Wappen.
XVIII
Es geht nicht um Erkenntnis. Im Grunde weiß man alles, und wenn nicht im Detail, so im Prinzip. Es geht um Schöpfung, um Schöpfung allein.
XIX
Zeit im Gedicht: Metrum und Reim. Dauer im Wechsel, Ebbe und Flut, das Geheimnis des Pulsschlags … Alles ist Wiederkunft. Daß wir in der Welt sind, daß wir leben und sterben: auch diese Constellation ist nicht einmalig. Aber doch so-gut-wie. Und darum dürfen wir tun als-ob. Aber wir dürfen auch tun als-ob-nicht. Aus diesem Grunde gibt es tragische und olympische Dichtung.
XX
Minotauromachie. Daß der Dichter sich zu opfern habe, ist bekannt. »Alle Dichter sind Juden«, heißt es bei Marina Zwetajewa, und: »Nur der Gezeichnete wird reden«, bei Gottfried Benn. Auch der Dichter als Spieler, als Artist ist eine vertraute Gestalt: Gedichte sind aus Wörtern gemacht. Aber das Widerspiel beider gilt es festzuhalten. Es findet in der Choreographie des Stierkampfs sein Gleichnis. Auch das Wagnis darin: für beide. Es ist ein Spiel, und es geht immer auf Leben und Tod.
XXI
Das Welt-Spiel spielen: das ist etwas anderes als: das Sprach-Spiel spielen. Aber auch das Welt-Spiel ist ein … Spiel.
XXII
Zwei Gewänder des Dichters: Zuerst der Trauermantel, mit Gold besternt, dann Goldpanzer mit Trauerflor. Der Schritt vom Stier zum Widder, von Dionysos zu Apollon. Er ist mit den Versen:
»Trägt deine Stirne das Mal«
und:
»Trägt deine Stirn das Aug«
bezeichnet. Wir tauschen Tage für Träume ein, Licht für Feuer, Gold für Blut.
XXIII
Der Sänger ist blind wie der Seher: dies ist sein Tribut an die Unteren Mächte. Drei Augen offen hat nur der Gott.
XXIV
Orte des Dichters, Stätten Apolls: Auf Felsen, an Feuern. Helikon, Parnaß. Wir fügen andere hinzu, die der Traum erfand: Questenberg, Hohenlohe, Arnshaugk. Der Dichter ist »auf der Höhe«, er ist Souverän im Reich der Sprache, selbst da noch, wo er die Lust am Untergang besingt.
XXV
Der Dichter ist Verkünder: dies hat er mit den Sibyllen gemein. Er ist der Namensgeber: das ist sein Adelsstand. Und er ist ein Seins-Stifter: dies macht ihn gottgleich.
XXVI
Der Dichter, indem er am Werke ist, gleicht dem Salamander, den die Flamme nicht berührt. Das Wort »Entrückung« trifft diesen Zustand nicht: vielmehr sind in ihm Entrückung und Verrückt-Sein aufgehoben: der Dichter ist mit sich selbst in eins gerückt. Er waltet im gefeiten Kreis. Archimedes im brennenden Syrakus ist ein Gleichnis auch für den Dichter, vor allem für ihn.
XXVII
Das Ziel der Dichtung: höchste Geschlossenheit und Offenheit in einem. Jedes Wort unverrückbar an seinem Platze, wie in Erz getrieben – und jedes Wort ein Samenkorn, daraus der Phantasie noch Unendliches ersprießen kann.
XXVIII
Dichten heißt: Aus dem Unendlichen sich ins Endliche begeben. Aber das Endliche deutet aufs Unendliche – nicht zurück, sondern vor.
XXIX
Die Kunst des Dichtens ist vor allem die Kunst, Worte zu stellen und umzustellen, solange mit ihnen zu spielen, bis sie in der rechten Weise zueinander stehen.
XXX
Was Kinder- und Meister-Werke miteinander verbindet: daß beide vom Ganzen ausgehen. Alles andere ist Stückwerk, wo zuletzt irgendetwas nicht zusammenpaßt.
XXXI
Für die Kunst: Talent ist notwendig, Fleiß wichtig, entscheidend ist der Mut. Daß man den Wahnsinn besitzt, seinem Stern zu folgen.
XXXII
Stil und Inhalt gehören zusammen. Es ist unsinnig, von einem Autor zu sagen: »Seine Ideen sind fragwürdig, aber er ist ein Meister der Sprache.«
XXXIII
Der höchste Stil ist dem gegeben, der in jedem Augenblick alles gegenwärtig hat: Gott. Wir müssen immer wieder aus uns selber den Funken schlagen.
XXXIV
Sieben Schöpfungstage: dieser Mythos hat Sinn, denn die Schöpfung wird vielleicht durch Aeonen hin vorbereitet, aber in kürzester Frist ausgeführt.
XXXV
Stoff und Form, materielle und magische Wirkung. Der Blick wirkt nur auf den Blick, nicht auf den Stein. Vor Tauben ist nicht gut zu musizieren.
XXXVI
Nicht die Freiheit von der Form, sondern die Freiheit in der Form ist das Faszinosum der Kunst.
XXXVII
Anfang und Ende sind beim Gedicht das Schwierigste, weil ja die Welt, für die es steht, weder Anfang noch Ende hat.
Natürlich gibt es auch Gedichte, die von Dingen mit Anfang und Ende handeln.
XXXVIII
Das Werk ist geschlossen … als Werk. Es ist die Absolutheit der gemeisterten Form. Dies gehört zur göttlichen Mitgift des Menschen: daß er fähig ist, souverän über dunkle Dinge, über Tod und Zerstörung zu sprechen.
XXXIX
Traum-Charakter des Dichtens: Unsere größten Werke vollbringen wir in einer Art von öffentlichem Schlafwandel.
XL
Man sagt, die Wachwelt sei allen gemeinsam, im Traume weile jeder in seiner Welt. Der Dichter lebt auch wachend in seiner Welt, zu jeder Stunde. Dies ist der Blick, den er allen voraus hat, der ihn zum Dichter macht.
XLI
Wir sind für die Kunstwerke, die wir schaffen, so sehr und so wenig verantwortlich wie für unsere Träume oder wie Gott für die Welt.
XLII
Das Gedicht ist eine Sphinx-Allee. Der Dichter legt sie an. Der Deuter sprengt sie auf. Die Sphinxe schweigen dazu und lächeln.
XLIII
Maß heißt nicht Lauheit oder Bescheidung, sondern: In allem bis zum Äußersten gehen.
Man kann auch darüber hinaus gehen. Dann stürzt man ab.
XLIV
Der Dichter löst keine Rätsel. Er gibt Rätsel auf.
XLV
Zwei Stimmen des Dichters: Die Stimme des Triumphes und die Stimme der Klage. Was dazwischen liegt, wird in Prosa ausgedrückt.
XLVI
Gesang ist Luxus, so wie der Mann ein Luxus der Natur ist. Verse gehören groß geschrieben. Prosa schreibt man mit der linken Hand.
XLVII
Wir haben für viele Sachverhalte feststehene Prosa-Formeln, die wir auch bei wiederholtem Gebrauch kaum oder gar nicht modifizieren. Dagegen geht ein Vers, den wir nicht festhalten, verloren wie ein Traum.
XLVIII
Ernst Jünger: »Von einer guten Prosa ist zu erwarten, daß sie die Todesfurcht verbannt.« Dies gilt auch für die Lyrik, doch wirkt sie in anderer Weise. Prosa verbannt die Furcht, Lyrik überblendet sie. Krystall und Flamme. Lyrik als Gegen-Feuer ist die stärkere Macht, Prosa wirkt auf die längere Dauer.
IL
Gerade der Reim schafft der Improvisation des Dichters ungeheure Möglichkeiten.
L
Prosa und Lyrik sind für den höheren Geist eins wie Wachen und Schlafen.
LI
Rede und Schrift. Das Buch ist immer ein Notbehelf, eine Art von erweitertem Gedächtnis. Buddha, Sokrates, Jesus lehrten in mündlicher Rede, Homer hatte seine Epen im Kopf. Noch Wolfram von Eschenbach war Analphabet. Von der Buch-Cultur zur Fernseh-Cultur ist es dann kein weiter Weg.
LII
Sprechen heißt kundtun, schreiben heißt abtun.
LIII
Auch was wir nicht schreiben, zeugt für uns. Auf manches läßt man sich von vornherein nicht ein. Dabei gibt es Themen, die der Literatur nicht würdig sind, und Themen, deren die Literatur nicht würdig ist.
LIV
Die Ökonomie der Mittel: Gewinn und Verlust gehen Hand in Hand. Das Eine Wort schließt alle anderen aus. Vielleicht ist eine mathematische Formel oder ein einzelner Buchstabe das Höchste, was die Literatur ereichen kann. C bezeichnet nicht nur den Kohlenstoff, sondern die Welt.
LV
Heilige Bücher. Der erste Satz als Schlüssel zum Ganzen: »Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde.« Dagegen: »Ein Gespenst geht um in Europa.«
LVI
Es macht einen geringen Unterschied, ob wir unsere Individualität mit Wörtern oder mit Büchern, die wir sammeln, ausdrücken. Wichtig ist der innere Besitz. Eine gute Bibliothek ist auch ein Gedicht.
LVII
Zwei Seelen in der Brust: Dichter und Schriftsteller. Der Sänger im Freien und der Autor in der Bibliothek, mit seinen Sämtlichen Werken und Briefen, schön gedruckt und eingebunden. Die Tendenz geht wohl von jenem zu diesem: im Leben des einzelnen wie in den Cultur-Epochen. Goethe hat es vorgelebt, auch: wie man bis ans Ende Dichter sein kann.
LVIII
Es gibt Bücher, die man auswendig weiß. Dann solche, die man mit der Hand abschreibt, andere, die man immer wieder liest, noch andere, die man einmal liest, solche, die man durchblättert, solche, die man anblättert, und schließlich (die Mehrzahl) jene, die man gar nicht erst in die Hand nimmt.
Dem entspricht die Hierarchie der Formen: Gedichte und Orakel-Sprüche hat man im Gedächtnis, Nietzsches Werke schreibt man eigenhändig ab. Dagegen läßt man von 1000 Hervorbringungen des »Zeitgeistes« 999 (oder mehr) unbeachtet. Was noch fehlt, kann jeder selbst ergänzen.
LIX
Ein Maßstab für die Qualität eines Autors ist die Qualität seiner Leserschaft. Zuletzt schreibt man allein für die Götter. Aber die Götter – man weiß es – lesen nicht.
LX
Ein Lyriker muß viel gelesen haben. Aber ich glaube nicht, daß er viel Lyrik gelesen haben muß.
LXI
Lesen heißt lösen. Der Leser löst, indem er die Rätsel eines Textes löst, die Rätsel der Welt. Er ist aber auch der Prinz, der die schlummernden Gestalten aus ihrem Dornröschen- Schlaf er-löst.
LXII
Alle Bücher verbrennen, die man besitzt. Sich selber blenden, wenn es sein muß. Was dann bleibt, das bist Du.
LXIII
Der Dichter gibt die Vision des Ganzen im doppelten Sinne: durch sein Werk und durch die Gestalt, die dahinter steht. Zeichen setzen, Zeichen sein. Nicht: Er hat es gesagt, sondern: Er hat es gesagt.
LXIV
Die Lebens-Geschichte des Dichters wiederholt die Welt-Geschichte der Dichtung. Es beginnt mit Zauber-Sprüchen, geht weiter mit Aventiuren und Helden-Epen, schreitet fort über Tragödie und Satyrspiel zu Hymnus, Elegie, Dithyrambus. In den Mannesjahren erfolgt die Wendung zur Geschichte, zu Roman, Reflektion, Platonischem Dialog, Maxime und Critik, bis sich zuletzt der Bogen schließt: Das Greisen-Alter bringt Fragmente, Torsi, Orakel-Sprüche, ehern und karg, doch beladen mit Traum-Schutt und allem Vieldeutigen der Übergänge.
LXV
Der Dichter im Tierkreis. Viele sind Widder-geboren: Shakespeare, Baudelaire, Verlaine, Huchel, Beckett … Andere ordnen sich anderen Zeichen zu: Goethe der Jungfrau, Trakl dem Wassermann, Wagner den Zwillingen, Benn und Novalis dem Stier. Und man kennt die Wiederkünfte im Platonischen Jahr: Die Stunde des Widders hat in Homer, die Fisch-Zeit in Dante ihren Rhapsoden. Dazwischen liegen 2160 Jahre, ein Zwölftel des Rings. Shakespeare entspricht dem Aischylos, Racine dem Euripides, vielleicht. Und ich nehme an, Borges hat sich selber schon irgendwo mit Kallimachos verglichen, dem Vorsteher der Bibliothek von Alexandria. Wir heute befänden uns, nach dieser Rechnung, an der Schwelle vom alexandrinischen zum augustäischen Zeitalter. Aber dies sind Gleichnisse, die wir nicht überfordern sollten. Sie besagen für den einzelnen nichts. Es gibt viele Zeichen, wie es viele Sprachen gibt. Ihr Zusammenspiel deutet auf das allen Gemeinsame hin. Jene, die wir wählen, bilden unser Wappen, unsere Identität. Buchstaben und Figuren: mehr besitzen wir nicht. Mehr sind wir, am Ende, nicht.
LXVI
Der Dichter geht nicht auf im Zeichen-Kreis, in den Cyklen und Proportionen. Form ist das Nicht-Erlernbare. Es kommt auf die Nuancen an: die Klangfarbe brechen, das Versmaß verspotten. Genie ist der Sinn für die Asymmetrie.
LXVII
Der Weg des Dichters in der Zeit oder die Metamorphosen des Opfers: Man opfert den Göttern, man opfert die Götter, man opfert sich selbst.
LXVIII
Orpheus ist der erste Dichter, den der Mythos kennt, Homer der erste Dichter als geschichtliche Gestalt. »Ilias« und »Odyssee« bieten die Grundmuster aller Dichtung: Menschen und Götter, Liebe und Streit, Ausfahrt und Heimkehr, und all dies Wort geworden, gemessene Rede, Gesang. Nietzsche nennt den Homer den »großen unfreiwilligen Vergöttlicher, die goldene Natur.« Aber jeder Dichter, der den Namen verdient, ist König Midas, im besten wie im schlimmsten Sinne.
LXIX
Hold und hehr. Hölderlin und Homer. Beide Dichter verkörpern, schon vom Namen her, den Gegensatz. Aber beide stehen auch für den Einklang von Leier und Schwert.
LXX
Als Troja gefallen war, gab es vermutlich Leute, die sagten, man könne nach dem Untergang Trojas keine Gedichte mehr schreiben.
LXXI
Das Faszinierende der antiken Kunst: die Reinheit der Formen. Wie alles Schönheit wird, auch das Grausame und Blutige, der Schrecken der Medusa. Nietzsche hatte zuerst den Blick für die Abgründe unter dem Olymp. Als diese Welt unterging, ging vielleicht das Beste unter, was der Mensch auf Erden geschaffen hatte, womit er die sichtbare Welt bereicherte. Eine analoge Entwicklung nahm noch einmal die europäische Adelskunst von der Romanik bis zum Rokoko. Jetzt nur noch die Innen-Räume: Dichtung, Musik, Theater. Bestenfalls gelingt es dem einzelnen, sich eine Welt zu formen. Im 19. Jahrhundert ist die Kunst schon Refugium, heute nicht einmal das mehr.
LXXII
Eine vollkommene Welt drückt sich nicht in der Sprache aus, sondern in öffentlichen Bildern. Sprache handelt immer von Abwesendem.
LXXIII
Stimmen der Völker. Die nordische Mythologie läßt der Erfindung mehr Raum als die arabische. Nordische: Bilder schaffen. Arabische: Spiel mit Bildern. Rilkes arabischer Touch: die Manierismen der Reimkunst. Er sah an seinem Lebens-Ende auch immer mehr wie ein Maure aus. Subtiles und Elementares, Messingstadt und Pilz-Paradies treffen sich im Symbol des Minaretts, das auch ein Phallus-Symbol ist.
LXXIV
Im Mittelalter war die Sprache reich und der Dichter arm. Heute ist die Sprache arm und der Dichter reich.
LXXV
Ossian und andere »Fälschungen« sind nicht zu tadeln. Sie machen nur deutlich, daß solche Formeln wie »der Autor von …« mit großer Vorsicht zu gebrauchen und vielleicht gänzlich unbrauchbar sind, weil es kein Werk gibt, das nur einen Autor hat.
LXXVI
Es gibt bei den einzelnen Nationen die – unausgesprochene – Instanz des Poeta laureatus, die dem jeweils bedeutendsten unter den lebenden Dichtern zugeordnet wird. Da sie immer besetzt sein muß, auch wenn es keinen erstrangigen Dichter gibt oder dieser im Verborgenen lebt, so ist oft unter Blinden der Einäugige König, werden Autoren zweiten Ranges zur Größe stilisiert, damit das Idol incarniert sei.
LXXVII
Classiker sein heißt nicht: vom Schmerz absehen, Glätte und Harmonie vortäuschen, sondern: aller Schrecken inne, das Vollkommene schaffen, die reine Gestalt: die »Ilias« dichten oder den »König Ödipus«. Goethe ist kein Classiker, denn er hat solche Themen gemieden. Goethe ist, in seiner »classischen Phase«, ein Classizist. Zum Glück ist er vieles andere noch.
LXXVIII
Romantiker: Die Engländer dichten »Oden an den Westwind«, die Deutschen dichten »Hymnen an die Nacht«.
LXXIX
Symbolismus. Er kann Brücke sein vom Naturalismus zur Mystik, aber auch vom Mythos zur Realität. Ersteres ein Kurzschluß. Gehen wir den umgekehrten Weg, so werden wir erkennen, daß die Realität schon Symbol ist. Sprechen heißt: in Symbolen sprechen. Die Aura redet mit. Dichten ist symbolisch, nicht symbolistisch.
LXXX
Wagner, George, Thomas Mann: Ihre Sprache ist die einer Vergangenheit, die wir nicht auffinden, weil sie Erfindung ist. Dies ist ihre Art von Originalität. In der Sprache des Dichters kommt ein Gewesenes, das nie war, zu sich.
LXXXI
Die große Kunst des Schriftstellers Nietzsche (und seine Vorbildlichkeit) besteht in der Verbindung des Diskursiven mit dem Imperativischen.
LXXXII
Mit dem Jahre 1914 endet in der Kunst der Stil und wird von immer rascher wechselnden Moden abgelöst. Aber schon der Stil von George, Rilke, Mahler ist gebrochen, ist zu sehr Stil. Es bedarf schon einer bewußten Absicht, eines Stil-Willens, um Stil zu bilden. Für Goethe und Mozart ergab sich Stil noch von selbst.
LXXXIII
Je mehr die Schönheit dich berückt, desto tiefer empfindest du die Qual der Gesellschaft. Auch darum ist der Künstler asozial, eher Rebell als Revolutionär. Er erkennt den Zustand der Gesellschaft als heillos und gleichzeitig als unheilbar. So bleibt ihm nur die Wahl, als Eremit oder als Terrorist zu leben.
LXXXIV
Man kann auch vor der Kunst ins Leben fliehen.
LXXXV
Früher gab der Autor die Ganzheit des Lebens: das Zarte wie das Blutige. Voraussetzung war eine Convention: Man wußte ungefähr, was sich schickt, wann, wo und wie es sich schickt. Freilich vermochte man in jeder Convention alles zu sagen. Man sprach von »schlechten Gewohnheiten« oder von »höchster Seeligkeit«. Heute sagt man »Masturbation« und »Orgasmus« – als ob das treffender wäre.
LXXXVI
Die »Avantgarde« stellt den Versuch dar, dem Urteil: Genial – nicht-genial auszuweichen ins Unverbindliche eines Individualismus, der alles gelten läßt und damit das Gegenteil des Angestrebten zeigt: nicht die Befreiung, sondern die Austauschbarkeit der Individuen.
LXXXVII
Verfall der Malerei: weil man nichts mehr eigenhändig copiert. Verfall der Musik: weil man nichts mehr aus dem Clavier-Auszug spielt. Verfall der Dichtung: weil man nichts mehr abschreibt, laut vorträgt und auswendig lernt.
LXXXVIII
Der Verfall der Kunst zeigt sich heute auch dergestalt, daß Maler, Componisten, Literaten sich bemühen, »mit der Zeit Schritt zu halten«, und mit 60, 70, 80 Jahren das jeweils Modische nachäffen zu müssen meinen.
»Auf der Höhe der Zeit«: das heißt immer: auf der Höhe des schlechten Geschmacks.
IXC
Der Banause unterscheidet sich vom Kenner dadurch, daß er sich eher an die Proclamationen und Manifeste als an die Werke hält. In Büchern liest er zuerst das Nachwort, Musik kennt er nur von der Schallplatte.
XC
Gedichte sind Prüfsteine: man hört und sieht aus ihnen nur, was man schon weiß. Hier hatte schon mancher die Gelegenheit, sich zu beweisen, so oder so.
XCI
Man verrät sich auch darin, wie weit man »mitgeht«, wie weit man einem Dichter folgt durch die Zeit und durch die Reihe seiner Werke. Für manche beginnt Hölderlins Wahnsinn bei »Hälfte des Lebens«, für andere bei seinen Pindar-Übertragungen, für die meisten schon beim »Hyperion«.
XCII
Eines ist der Mittelmäßigkeit unbegreiflich: daß es Genies geben kann, die noch nicht gestorben sind.
XCIII
Die Pyramide der Lebens-Zeugnisse: Man darf das Kunstwerk nicht mit den Lebens-Tatsachen verwechseln, die es begleiten und bedingen. Es gehört einem anderen Rang an als die Briefe, Biographien und Commentare. Dies deutlich am Beispiel Wagners: Hier sein Werk, von einzigartiger Höhe, dort sein Leben, sein Kampf um das Werk. Auch das letztere fordert Zeit und Kraft, mehr als das Componieren, entscheidend aber ist das Werk. Wer diesen Sachverhalt kennt und auf den Kopf stellt, der weiß nichts.
Zu warnen ist auch vor der falschen Sicht auf Hölderlin und Nietzsche: daß man ihre Briefe und Seufzer für wichtiger nimmt als das Werk. Auch hier gilt: Wir sollten den Menschen in der Stunde des Triumphs aufsuchen, nicht in der Stunde der Verzweiflung, Rast oder Müdigkeit. Armselig sind wir alle, sterblich auch. Aber manchmal gleichen wir Göttern. Freilich sind damit nur neue Grenzen gesetzt: denn mögen viele sich noch im Äußerlichen eines Lebens wiedererkennen – im Werk als der Quintessenz und Steigerung dieses Lebens finden sich die wenigsten wieder, hier erst beginnt der geheime Bund der Erwählten, und nichts ist strenger als die Scheidung, durch die der Nicht-Geweihte aus diesen heiligen Bezirken verbannt ist.
XCIV
Zeiten, in denen wir nichts schufen, erscheinen uns im Rückblick reicher, weil wir in der Fülle der Möglichkeiten lebten. Dies mag die Müßiggänger, Meditierer und Mystiker zu den irrigen Meinungen über den Rang ihres Tuns (oder besser: Lassens) verführen.
XCV
Man kann nicht einerseits die Verantwortung des Autors fordern und andererseits den Verfall der Creativität beklagen. Alle Schöpfung ist jenseits von Gut und Böse. So ist Thomas Manns Wendung gegen die trunkene Unvernunft des dionysischen Sängers auch ein Ausdruck von Mangel: Er hat den Rausch nicht und verdächtigt ihn bei anderen. Der Schriftsteller denunziert den Dichter – vor welcher Instanz? und mit welchem Recht?
XCVI
In Ländern mit traditioneller Pressefreiheit, wie England, werden die freien Geister durch den Terror der öffentlichen Meinung ins Exil getrieben.
XCVII
Mein erster Berufswunsch: Sportreporter. Dies ist ja der Homer oder der Pindar der modernen Zeit. Der Barde mit dem größten Auditorium. Er war es noch mehr in den 50er Jahren, als das Radio noch gegen das Fernsehen überwog.
XCVIII
Im Radio wurde mitgeteilt: Das Schriftstück, das man bei einem Araber gefunden hatte und zunächst für den Lageplan der Diskothek hielt, in der eine Bombe explodiert war, stellte sich als Gedicht heraus. Das Gedicht erschien in diesem Contrast als der Gipfel der Harmlosigkeit. Wir sollten dafür sorgen, daß auch Verse wieder tödlich werden.
IC
Zwei Gedanken, die einen jungen Dichter entmutigen können:
Die Relativität aller Dichtung: ein Zeichen kann alles bedeuten. »A« kann »Baum« heißen, »Arsch« oder »Engel«. Doch ist »Baum« nicht nur weniger als der wirkliche Baum, sondern auch mehr. »Baum« ist auch nicht »arbre« oder »tree«. Es besteht eine Einheit von Zeichen, Bezeichnetem, Lautklang und Schriftbild. Jedes Wort hat seine Aura.
Die Möglichkeit, daß Computer Gedichte verfassen, weil die Zahl der möglichen Gedichte endlich ist. Die Zahl der möglichen Gedichte ist jedoch so groß, daß sie praktisch unendlich ist. Wir erschöpfen ja nicht einmal das Schachspiel mit seinen 64 Feldern. Das meiste ist noch ungesagt. Der Computer ist ein Hilfsmittel wie der Duden oder das Grimmsche Wörterbuch. Unsere Intuition erschafft auf einen Schlag das Ganze und in Vollkommenheit. Ein vollkommener Vers kann von niemandem übertroffen werden, auch nicht von Gott.
C
Könnerschaft und Autorschaft: Zum Autor wird man geboren, und man zeigt es früh. Aber dann kommt das Interregnum, die Zeit, in der man die Werke der Meister studiert, ihre Worte nachspricht, ihre Mittel erprobt. Zum Autor wird man erzogen, oder besser: man erzieht sich selbst dazu.
CI
Diesseits und jenseits der Individualität: Diesseits, wer seine Sprache noch nicht gefunden hat, jenseits, wessen Wort in den großen Gesang aller Meister aller Zeiten einmündet.
CII
Die kleinsten Talente greifen zu den größten Themen – aber auch die größten Talente tun dies.
CIII
Die »heilige Schicklichkeit«, von der Hölderlin spricht, bedeutet nicht, daß dem Dichter irgendein Wort oder Thema verboten wäre. Der Dichter darf alles sagen. Einzige Bedingung dafür ist, daß er es kann.
CIV
Immer das Äußerste verlangen: zuerst von sich selbst. Aber auch von allen anderen.
CV
Sich einen Namen machen: Ja – aber auf meine Art.
CVI
Man muß der Zeit ihre Sprache nicht nachschreiben, sondern vorschreiben.
CVII
»Weltfremd«. – Nicht der Dichter ist weltfremd. Die Welt ist weltfremd.
CVIII
»Dichter« kommt nicht von »Verdichter«, sondern von »Dictator«.
CIX
Der Autor ist ein Vampyr. Er nährt sich vom Blut seiner Epigonen wie von dem seiner Vorgänger.
CX
»Wer hat, dem wird gegeben.« Zuletzt werden einem Werke zugeschrieben, die man nicht verfaßte, Taten, die man nicht begangen hat. Von Dante erzählten die Leute, er sei in der Hölle gewesen. Aber war er nicht dort?
CXI
»Wo ein Schwert ist, da ist auch ein Schild«. So auch bin ich ein zugleich skandalöser und seriöser Autor.
CXII
»Spät ankommen.« Ja – aber nicht um jeden Preis erst posthum.
CXIII
Man darf sich, als Fürst wie als Autor, dann seines Ranges sicher sein, wenn man zum Ziel von Attentaten wird.
CXIV
Man kann, man soll nicht immer mit der geballten Faust leben, sei es die des Fechters, sei es die des Scriptors.
CXV
Der Autor hat durchaus das Recht, schlecht über manche seiner Werke zu sprechen, ohne daß andere deshalb schon das gleiche Recht hätten.
CXVI
Die »normalen« Leute sind Schuldner des Dichters. Sie halten sich aber für Gläubiger.
CXVII
Der Autor hat für sich zu zeugen. Nicht für die Welt und schon gar nicht für »unsere« Welt.
CXVIII
Der Dichter braucht keine Rezensenten, sondern Mäzene.
CXIX
Die Fähigkeit, im Banalen und Obszönen zu schwelgen, als Zeichen seelischer Gesundheit. Zumindest scheidet dieses Vermögen Goethe, Mozart, Schubert, Wagner von Hölderlin, Novalis, Nietzsche, George, Rilke. Es bleibt dem Genius im Verkehr mit den Menschen nichts anderes übrig als zu schweigen oder derbe Scherze zu treiben.
CXX
Auch für die Darstellung des Sexuellen gilt die Maxime: Die Drohung ist stärker als die Ausführung. Verschlüsselte Symbolik wirkt stärker als offenkundige Zeichen. Der Phallos wird nur einmal enthüllt.
CXXI
Woher die Lust an Xenien, zahmen und ungezähmten? Sie erinnern uns an unsere Sterblichkeit. Der Geist wohnt im zerbrechlichsten Gehäus. Wir sind vielfach bedingt, voller Gebrechen, allem preisgegeben: den Elementen, den Klauen des Tigers, der Blasphemie, dem Gift. Jeder hat seine Achilles-Ferse, darein der Skorpion ihn sticht. Hermes ist auch Anubis: hundeköpfig, Arschficker. Der Triumphator, wenn er einzog, durfte vom Pöbel verhöhnt werden. Die Schmäh-Rede gehört zum Barden-Beruf.
CXXII
Das ungenaue Zitieren zählt zu den Attributen eines souveränen Geistes. Er hat es nicht mehr nötig nachzuschlagen. Er weiß auch, daß das Zitat, so wie er es sich zurechtgebogen hat, die höhere Wahrheit verbürgt.
CXXIII
Man ist als Autor dann am Ziel, wenn man über sein Werk so viel und so verschiedenes hört wie Gott über die Welt zu hören bekommt.
CXXIV
Ein Lebenswerk muß so beschaffen sein, daß jemand, der es kennt und besitzt, an ihm sein Genügen findet – weil er hier den Kosmos in seiner Totalität, auch in seiner Unendlichkeit vor Augen hat. Jeder Dichter errichtet ein Imperium des Geistes. Jeder wahre Autor macht alle anderen Autoren überflüssig.
CXXV
»Über Leichen gehen.« Dies ist die Hermes-Kunst, die auch der Dichter pflegt. Nicht die Verse sind schrecklich, die Welt ist schrecklich. Kunstwerke wirken nur dann bedrohlich und verstörend, wenn sie nicht vollendet sind, wenn der Autor seinem Gegenstand nicht gewachsen war. Die Kunst kennt nur ein Verbrechen: das wider die Form. Im Anruf und Aufruf des Dichters ist alles, auch das Unerlöste, erlöst.
CXXVI
Die Welt wäre nicht vollkommen, wenn sie nicht auch den vollkommenen Schrecken und den vollkommenen Schmerz für uns bereithielte.
CXXVII
Wir müssen uns beständig üben im Memorieren der Schreckbilder. Dann kann uns nur noch das Glück entsetzen.
CXXVIII
Der Dichter ist die umgekehrte Gorgo: Er spricht das Wort aus, vor dem der Schrecken versteint. Auch ihm sind die Schlangen verschwistert: er trägt sie in seinem Haupt.
CXXIX
Elegie und Hymnus: Einsam in der Klage, einsamer nie als im Triumph. Schon deine Trauer trägst du allein. Aber dein Überschwang ist ihnen noch fremder als deine Schwermut. Das Glück, das du singst, wird dir nie verziehen.
CXXX
Anfangs waren die Worte befiedert, die der Dichter sprach. Später der Gänse-Kiel, mit dem er seine Verse niederschrieb. Nun verrichten Maschinen drei Viertel der Arbeit. Drachen und Greife haben die Erde verlassen, und bald sterben auch Schwan und Adler aus. Aber alles, was hingeht, wird wieder Gesang. Die Schweifenden opfern sich, daß unser Wort sich neu befiedre, daß unser Vers beflügelt sei.
CXXXI
Wir müssen heute selbst unsere Winterreisen in mythische und Traumlandschaften antreten.
CXXXII
Der Dichter, den es nach Nebelheim verschlägt, muß andere Saiten aufziehen: Stahl für Gold. Aber immer bleibt er der Gipfel gedenk, auch in der Tarnung hochgemut. Er ist eher der Erlkönig als der Knabe im Moor.
CXXXIII
Herr auf Arnshaugk: der Aar auf dem Gipfel. Aber auch: the fool on the hill.
CXXXIV
Die doppelte Perspective: Wir fassen die Dinge vom Anfang und vom Ende her. So dürfen wir sagen: Alle Gedichte sind Bruchstücke des Welt-Gedichts, aber auch: Alle Gedichte sind Bausteine zum Welt-Gedicht.
CXXXV
Der erste Dichter war Orpheus. Wer wird der letzte sein? – Orpheus, wer sonst?
CXXXVI
Vier Götter standen dem Orpheus bei, als er sich den Tiefen der Mütter-Welt entschwang. Vier Götter sind auch dem späten Sänger hold: Eros, der ihn erweckt, Hermes, der ihn geleitet, Dionysos, der ihm die Zunge löst, Apoll, der ihn krönt.
Eros ist der Spender und große Beleber. Kein Spiel gelingt, in dem Eros nicht mitspielt. Hermes weist uns, über Grate und Gruben, durch Schwert-Wälder und auf Schlangen-Pfaden, den Weg. Dionysos ist der Berauscher, der Brecher der Rebe, der Stürzer der Mauern: Wir feiern Hochzeit mit Pflanze und Tier. Apollon gibt uns das Maß, den Lorbeer-Kranz und das Licht.
Alle vier sind befiedert. Alle schenken Flügel: Eros dem Herzen, Hermes dem Fuß, Dionysos dem Phallos, Apollon dem Haupt.
CXXXVII
Der letzte Dichter: es gab schon manchen, der sich dafür hielt. Und niemand weiß, ob er nicht schon unter uns weilt.
Der letzte Dichter ist der einsamste. Der Eine, der all das trägt, bevor er versinkt. Einmal wird kein Sagen mehr sein. Das Wort kehrt heim zu den Göttern, die es sandten, oder es kehrt mit ihnen ein in die Elemente, ins Chaos, dem alles entstammt. Aber vorher versieht der letzte Dichter sein Amt. Es ist die alte Beschwörung. Noch einmal stimmt Orpheus die Leier. Noch einmal steigt Odysseus hinab ins Totenreich, trinkt Teiresias vom Blut. Der Nebel fällt, die Schatten beginnen zu sprechen. Der letzte Dichter wird sein wie der erste: Stier, der sich opfert, Aion, der spielt.
CXXXVIII
Der Dichter als Phoenix: Er bringt sich als Opfer dar. Er steigt verjüngt aus der Glut. Er ist der Scheit, der sich hingibt, er ist die Flamme, die loht. Und er schaut sich bei alledem zu. Er lächelt sich zu. Aus der Nacht, aus dem Schweigen vernimmt er den doppelten Ruf, das Wort, das er selber aussprechen muß, denn niemand spricht es für ihn: »Kehr heim in den Klang.« Aber auch: »Wachet mit mir.« Der Dichter kehrt als Letzter heim.
CIXL
Der Aion ist ein Knabe, sagt Heraklit. Aber war der Aion nicht auch der Löwe mit der Schlange? Die Perser deuteten ihn so. Mir wäre er am liebsten in diesem Bild: Als umgekehrter Minotaurus: als Stier mit Menschen-Haupt, von der Schlange umrankt. In ihm wären drei Mächte zum Dreiklang vereint: Das Blut, das uns nährt, das Haupt, das den ewigen Traum nährt, der Ring, der alles umschließt.
CXL
Der Dichter, der über Dichtung spricht, wird sich hüten vor Analysen und Manifesten. Besonders aber wird er sich vor Systemen hüten. Er wird symbolisch reden, mit calculierten Unschärfen, die nicht seiner Willkür, sondern dem Gegenstand entspringen. Dichtung und Deutung fallen in eins. Muster dafür sind die späten Hymnen Hölderlins, Rilkes »Sonette an Orpheus«, manche Gedichte von Schiller und Goethe, in neuerer Zeit von Valéry, Pound, Benn. Wenn Schelling sagt: »Aber das Unendliche endlich dargestellt ist Schönheit«, so hat Goethe dies im Gleichnis ausgesprochen:
CXLI
Dichtern, die über Dichtung sprechen, sollte man nicht glauben. Aber wem sonst sollte man glauben?
CXLII
Der menschliche und der göttliche Standpunkt: Jenen gilt es zu bewahren, diesen zu gewinnen.
CXLIII
Kunst ist das wiederholbare Wunder, und damit ein doppeltes Wunder, denn schon die Wiederholbarkeit ist ein Wunder.
CXLIV
Daß in dieser Welt der Dichter möglich ist: das ist die wahre Theodizee.
CXLV
Alles beisammenhalten. Vor allem aber: alles hervorrufen.
CXLVI
Nicht: einen »Amadeus« schreiben –: ein Amadeus sein!
CXLVII
Atem – Odem. Alpha und Omega, Aleph und Om. Dies ist der Ausgang, der auch der Eingang ist. In den Silben fand die Gründung statt: Mohn, Loos, Ohr, Dom, Pan, Saat, Aar, Schwan, Gral. In den Namen die Hochzeit der Vokale: Apollon, Soma, Jason, Charon, Angelos, Patmos. Und dann die kunstreichen Gefüge, Worte mit Flügeln, die den überdauern, der sie fand. Welt muß nicht sein. Gesang muß sein. Und dann die Heimkehr, die, wie alles, Verwandlung ist. Atem – Odem. Und am Ende nichts als der Hauch.
Wer wird uns zur Seite stehn auf dem Gang ins Wortlose? Ein Hermes? Ein Vergil? Ein jeder hat wohl seinen eigenen Führer durch die Unterwelt. Dem Dichter gibt der Dichter Geleit:
aus: Schwarzer Apollon, S.77
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