Wilflingen, 9. Februar 1980
Es vergeht kaum eine Woche, ohne daß mit der Post ein Traum kommt oder ein Gedicht. So heute der »Gesang an den Horusfalken« von Rolf Schilling, einem Leser jenseits des Eisernen Vorhanges.
Die Verse erinnern mich an die »Edda«, die Droste, an George und dann wieder an Baudelaire, jedenfalls an einen guten Humus; ich las sie mit dem Genuß und der Trauer eines Rückwanderers in die klassische Welt. Sie halten sich im Interregnum: die alten Götter sind entschwunden; zwischen Gräbern und Ruinen sind nur noch die Schatten zu sehen. »Staub auf den Pranken uralter Sphinx, drauf die Asche von Sodom einst fiel.«
Wilflingen, 18. Juli 1984
Bezügliches: Rolf Schilling sendet mir über die Mauer Gedichte, die dort nicht gedruckt werden können — wahrscheinlich wegen ihrer mythisch-heraldischen Grundhaltung. Ich notiere daraus:
Aus dem Begleitbrief: „Die Sammlung heißt: »Der Questen-Gesang«. Der Queste ist der Frager, der Suchende. Der Vers von »Der Stunde, die immer noch Götter gebiert« war in dem Sinne gemeint, daß der Vorgang, den Sie die »Annäherung« nennen, immer noch möglich ist. Solange wir da sind, überwiegen die Mächte der Schöpfung die der Zerstörung. Mir fällt ein indisches Sprichwort ein: »In jedem Staubkorn schlummern Buddhas ohne Zahl.«“
Das Zitat war mir unbekannt. Es entspricht meiner Ansicht, daß die Kernreaktionen nur winzige Andeutungen möglicher Entfaltung sind. Was ist selbst die Explosion eines Sonnensystems inmitten von Milliarden Lichtjahren? Ein Fünkchen kaum. Da versagen die Maßstäbe.
Klopstock: ———————--Hier füllen nur Sonnen den Umkreis.
Wilflingen, 22. Februar 1987
An Rolf Schilling: „Das Jahr floß schnell vorbei. So komme ich heut erst dazu, Ihnen für Ihren Brief vom 12. Juli zu danken, und besonders für Shelleys Elegie. Ihre Übersetzung erinnerte mich an den Tag, den ich am Steilufer des Nahrel-Kalb verbracht habe, des Flusses, den in jedem Frühling das Blut des Adonis färbt. Ihre Übertragung des »Adonis« ist ein Lichtblick in unserer entmythisierten Zeit.
Im Jahr 1976 wurden in einer Londoner Bank zwei bislang unbekannt gewesene Gedichte Shelleys entdeckt, die dort seit 1820 im Koffer eines seiner Freunde schlummerte. Mein Compère Fouad El-Etr hat sie gut ins Französische übersetzt. (»La Délirante«, 1979)
Auch sonst gäbe es viel zu berichten, doch nehmen Sie vorerst mit diesen Zeilen als einem Lebenszeichen vorlieb.“
Wilflingen, 3. November 1990
… Gedichte freuen mich immer. Auf meinem Schreibtisch liegt ein Typogramm von Helena Paz, der Tochter Octavios, das mit »Mélusine« beginnt. Daneben das umfangreiche Werk von Rolf Schilling, mit dem ich seit langem korrespondiere und der mich besucht hat, nachdem die Mauer gefallen war. Er hat ein gutes Verhältnis zum Mythos und sein eigenes Webmuster, an dem man seine Verse prima vista erkennt. …
Wilflingen, 29. Juni 1991
„Lieber Rolf Schilling, Ihre Gedichte, die mich noch vor kurzem nur auf Schleichwegen erreichten, kommen nun mit der Post. Das freut mich für Sie und für mich. Auch für »Tage der Götter« herzlichen Dank.
Ich lese Ihre Verse mit unvermindertem Genuß und würde Ihre Autorschaft in jeder Strophe erkennen, die mir auf dem Tisch flöge. Sie haben, was Baudelaire vom Dichter verlangt: Ihr Webmuster.
Daher finde ich keine Vergleiche — nicht einmal den naheliegenden mit Stefan George. Sie sind nicht, elitär, sondern fundamental, und eher isländisch als meridional.
Man müßte schon auf die Skalden zurückgreifen. Das ist nicht modern und nicht nur heute, sondern schon seit Ossian fast verrufen, trotzdem haben Sie Ihr Zeichen in die Esche geritzt und lassen sich hoffentlich nicht beirren dabei.
Leider fehlt mir die Zeit für einen ausführlichen Brief. Ich lese Ihre Verse bald wie die eines Sängers, bald wie die eines Lyrikers — der Unterschied liegt nicht in der Berufung, doch in der Art der Wortführung. Bei Ihnen greift beides ineinander über — — —. »Nur der Traum schenkt solche Helle.«
Zwei Elemente, mit Vokalen und Konsonanten würdig bedient.“
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