I
Schönster Tag im November. Wir kommen aus Belle und erreichen am späten Vormittag den Teutoburger Wald. Die Orte in der Nähe heißen Schlangen und Horn. Der Himmel ist blau, später wechselnd bewölkt. Misteln auf den Bäumen, Wildgänse in der Luft. Nach einer Strecke im Dämmerlicht öffnet sich vor uns der Wald und gibt den Blick auf die Extern-Steine frei. Der erste Eindruck ist überwältigend, wir halten jählings inne im Schritt. Von weitem erkennbar erhebt sich am Gipfel des östlichen und höchsten der vier Felsen ein Menschenhaupt in classischer Haltung: dies ist der „Rufer“, den ich vorher auf Abbildungen sah. Die Figur tritt deutlicher hervor als ich erwartet hatte. Unter der Kappe, die das Haupt bedeckt, ist eine Eidechse aus Stein zu sehen. Die Mund- und Kinnpartie des Rufers wird vexierbildartig durch ein weiteres Echsenhaupt gebildet, und das Kinn, so will es scheinen, ist zugleich die Perle, mit der jener Drache spielt. Die Schönheit der Gesichtszüge — man fühlt sich an die Griechen und an Breker erinnert — spricht eher dagegen, daß es sich hier um ein Menschenwerk aus der Steinzeit handelt. Doch wollen Enthusiasten, die nach oben stiegen, Spuren gefunden haben, die von Stein- und Horn-Werkzeugen herrühren. Welchen Ursprungs das Bildwerk auch sei — ob Laune der Natur oder Schöpfung des Menschen oder beides in einem — auf jeden Fall stellt es dar, was man immer erträumte: ein Menschenhaupt in monumentaler Ausprägung, und dies unmittelbar mit Echse und Drachen verbunden, mit den Mächten des Ursprungs, die dieses Königs-Haupt aufbewahrt und überwunden hat. Wäre dies eine Skulptur aus vorchristlicher Zeit, so würfe das manche Vorstellung von der heidnischen Vorwelt über den Haufen: Wir hätten alsdann das Zeugnis einer untergegangenen Cultur vor Augen, derengleichen wir sonst nur aus dem Mittelmeer-Raum kannten. Vielleicht kam ein Grieche hier vorbei? Aber sahen die Götter der Griechen so aus? Letztlich ist das eine nebensächliche Frage. Wir dürfen sagen: Der Gott, der den Drachen und den Menschen schuf, schuf auch die Externsteine, und es ist zweitrangig, ob er sich für sein Werk des Menschen bediente oder nicht. Aber das Haupt steht da, hold und hehr, für jeden sichtbar — dies ist Wunders genug, und daß es an dieser Stelle ragt, kann kein Zufall sein, denn hier ist ein magischer Ort.
Wer den Blick erst einmal geschärft hat, liest nun allenthalben Faunsköpfe, Echsen-, Fisch- und Widder-Leiber aus den gebuckelten Felswänden heraus, wobei für mich die Frage nach der Herkunft unentscheidbar bleibt. Es ist aber anzunehmen, daß an mancher Stelle der Meißel der Natur nachhalf. Dies war eine Weihestätte, von der Natur ausgezeichnet und vom Menschen für seine Opfer gewählt, vielleicht sogar das Allerheiligste der Alten Cherusker, das von christlichen Bilderstürmern zerstört und okkupiert wurde. Ein Relief aus dem zwölften Jahrhundert zeigt die Kreuzabnahme und den Sturz der Irminsul, einer Säule mit Widderhörnern, an einem anderen Felsen zeichnet sich der Umriß des Gekreuzigten ab, die Seitenwunde ist deutlich markiert, es mag aber sein, daß dies vorher schon Odin war, der, damit er die Runenkunde gewinne, neun Tage lang an der Esche hing, „verwundet vom Ger“.
Wir steigen auf einer Treppe in den rechtwinkligen Raum empor, der aus dem Fels geschlagen wurde. Hier herrscht beinahe Windstille, wiewohl die Wände offenstehen und ringsherum der Sturm braust. Durch ein kreisrundes Loch in der Wand fällt am Tag der Sommersonnenwende der erste Strahl auf die Rückwand und wandert nach einigen Minuten über ein kaum noch erkennbares Kopfrelief in der Ecke. Wir wenden uns nach Osten und wandern weiter über die Felsenrücken, die nicht so frei stehen wie die Extern-Steine. Auch hier finden sich Vexierbilder, welche beweisen, daß der Stein — wie die Wolken — von selber Formen hervortreibt, die denen der Tier- und Pflanzenwelt emblematisch entsprechen. Auch in unserem Garten steht ein Echsen-Stein: Er gleicht dem Haupt eines Reptils, das in den beschuppten Leib übergeht. Und am Ausgang des Teutoburger Waldes, am Istenberg im Emsland, sehen wir die gleiche Figur, doch in gigantischem Format.
Nicht nur die Steine sind verwunschen, auch der Haugk übt eine Zaubermacht. Nach einigen hundert Schritten gelangen wir in einen Urwald, wie ich ihn noch nicht betreten habe. Abgebrochene Äste und umgestürzte Stämme modern Moos-überwachsen im Grund. Unter den Laubbäumen herrschen die Rot- und die Hainbuche vor. Hohe mächtige Fichten schwanken im Winde. Die Wurzel eines Baumes, dessen Torso uns den Weg versperrt, ist von einer mannshohen Mauer grünen Mooses überspannt. Sylvia bricht einen Schnee-Cardinal, den wir gemeinsam verspeisen. Auch sonst viele Pilze im feuchten Revier, wo Quell neben Quell zu entspringen scheint. Zum ersten Mal nehme ich die Stechpalme, Ilex aquifolium, wahr und ihr Blatt in meinen Wappensaal auf. Ein Schwarm kleiner Vögel entschwirrt ins Gehölz. Ich wäre nicht erstaunt, hier auch der Schlange zu begegnen, wie am Fuß einer Eiche zu Ivenack, wo ich die Ringelnatter nicht mit der Hand, doch mit dem Blick erhaschte.
Seltsam ist es, daß ich vor einem Jahr erst von den Extern-Steinen erfuhr. Dieser Umstand mag zufällig sein, doch hat er, ins Ganze gerechnet, mit einem Tabu zu tun, das auf bestimmten Orten, Symbolen und Personen liegt. Andere sind stolz auf ihr Stonehenge oder ihr Lascaux, die Deutschen sind nur immer auf der Flucht vor sich. Man sucht das Mythische in Irland, in Indien, in der Karibik, der Menhir vor der Haustür gilt als „faschistisches Symbol“. Aber ich glaube, wir erweisen Adolf Hitler zu viel Ehre, wen wir ihn zum Universal-Erben und Allein-Eigentümer des deutschen Mythos und aller kriegerischen Symbole erklären. Der Adler, die Schlange, der Gral, Wotans Speer und Siegfrieds Schwert, die Queste und der Echsenstein kommen von weiter her und bleiben fruchtbar für kommende Zeiten, fruchtbar vor allem für den Gesang. Wer sie verleugnet, wird das Heil nicht finden, er rodet seine Wurzeln und trübt den Quell.
Nach vier Stunden verlassen wir die Extern-Steine. Bei heraufziehender Dämmerung kommen wir zum Hermanns-Denkmal, dem Lebenswerk des Bildhauers Ernst von Bandel. Als Entwurf mag es akzeptabel sein, die Figur überzeugt nicht, sie gemahnt an einen feisten Gründerzeit-Germanen im Turner-Costüm, abgesehen davon, daß man nur aus der Höhe (etwa im Ballon schwebend) einen guten Ausblick auf das Ganze der Composition haben kann. Unter den Monumenten des Wilhelminismus ist mir das Völkerschlacht-Denkmal am bedeutendsten, weil es die archaische Form aufgreift. Den Kyffhäuser und mehr noch den Teutoburger Wald hätte man mit solchem Zierat verschonen sollen. Das christlich-germanische Kaiserreich als Erfüllung der Ahnen-Träume und Ziel der Geschichte — nein, das war es nicht, und diese Tatsache ist seinen Bauwerken abzumerken.
Gut gestimmt und reich an Gesichten kehren wir am Abend ins Quartier zurück. Daß es der einzige Sonnentag in diesem trüben November war, bestärkt mich in der Gewißheit, noch nicht von den alten Göttern verlassen zu sein.
II
Das Wort der Skalden ist verschollen, die Zeugen der Vorzeit sind verstümmelt oder zerstört. Trotzdem bedurfte es geringer Phantasie, im Stein die heraldischen Zeichen zu erkennen, ich nahm mir die meinen heraus: den Widder, in dessen Aura die Sonne zur Stunde meiner Geburt stand, die Fische, die der Aszendent bezeichnet. Und schließlich das Vexierspiel mit der Eidechse und dem Drachen: es ist fast zu schön, um wahr zu sein, und vielleicht hab ich’s nur hineingedeutet, wer weiß? Aber andere sahen es auch, und ich folge der goldenen Spur.
Ich kannte den Drachen als den Widersacher, der dem Lichtgott unterliegt. Ich kannte ihn als den Wächter am Goldhort, und ich lernte ihn kennen als den Hüter der östlichen Himmel. Nun traf ich ihn hier im Nordwesten wieder, was mich beglückt, zumal der Drache für mich das Leitmotiv der letzten Olympiade war und ich ihm ausdrücklich huldigte in dem einen wie in dem anderen olympischen Jahr. 1988 war zudem, nach chinesischem Cyklus, ein Jahr des Drachen, ich säte die Drachensaat und trat ins Haus des Drachen ein. Ich sah ihn mit der Perle spielen. Und vier Jahre später fand ich den Drachen vom östlichen Tor.
Schlange und Echse gewinnen in der Hydra und im Drachen ihre höchste Macht. Hyder und Drache wiederum stecken den Raum ab, aus dem wir kommen, in den alles einkehrt, das Unmenschliche und das Übermenschliche, dazwischen waltet der Mensch in seiner olympischen, tragischen und kriegerischen Existenz. Schlange und Echse besitzen auch als Traum-Gestalten einen Ausnahme-Rang. Wenn sie erscheinen, wird es ernst. Wir durchschreiten eine Pforte, die sonst verschlossen ist. Die Schlange steht für das Fremde, das Ganz-andere, das Dunkle in uns. Sie gleitet lautlos herein, sie ist die Botin des Unteren Reichs. Wir beginnen zu ahnden, daß dort unsre besten Kräfte schlummern. Die Echsen waren vor uns die Herren der Erde. Der Leguan im Helmschmuck verweist auf seinen gewaltigen Ahnen, den Tyrannosaurus Rex. Wir betrachten sie beide mit Scheu, aber auch mit einem Gefühl der Verwandtschaft, der Vertrautheit. Was liegt dem zugrunde?
Es ist der Verdacht, daß ein so geistvolles Raubtier wie der Mensch sich in Echsen-Gestalt noch wohler befände, noch besser fortbehülfe. Die Chinesen haben dieser Neigung am stärksten nachgegeben und den Drachen zum Herrscher über Himmel und Erde gekürt. Dieser Entwurf erscheint gleichsam zurückgespiegelt in der Person des Kaisers, welcher als die Incarnation des Himmelsdrachen gilt. Allein die kaiserlichen Gärten und Paläste sind mit dem Zeichen des Drachen geschmückt. Eine Ausnahme bildet das Haus des Konfuzius, von dem ein Wort überliefert ist, darin er der Begegnung mit Lao-Tse gedenkt: „Von den Vögeln weiß ich, daß sie fliegen, von den Fischen, daß sie schwimmen, von den Tieren, daß sie laufen können. Was läuft, vermag das Netz zu fangen, was schwimmt, das kann die Angel, was fliegt, der Pfeil erreichen. Doch vom Drachen weiß ich nicht zu sagen, wie er sich erhebt auf Wind und Wolken und in den Himmel steigt. Heute habe ich Lao-Tse gesehen — ob er wohl gleich ist dem Drachen?“
In einem Fürstengrab, dessen Alter auf sechstausend Jahre geschätzt wird, fand man die Bilder von Tiger und Drache aus Muscheln gefügt. Der Reigen setzt sich fort in der Zeit. Wir begegnen dem Drachen überall, in Stein gehauen und in Bronze gegossen, als Gemälde im Saal oder als Stickerei auf seidnen Gewändern, als Schwellenhüter, als Glockenzier. Ein Seismograph in der Sternwarte zu Peking wird von einem Drachenkranz umrahmt. Wenn in fernen Provinzen die Erde bebte, spieen die Drachen goldene Kugeln aus.
Den Chinesen ist geglückt, was den Deutschen verwehrt blieb: das archaische Symbol für die Hoch-Cultur fruchtbar zu machen und in ihr lebendig zu erhalten über die Jahrtausende hinweg. Einen Gipfel bildet für mich die Neun-Drachen-Mauer im Beihai-Park, dieses Wunder der Asymmetrie. Den Gestaltern gelingt es, das Tier, das es nicht gibt, in aller Leibhaftigkeit zu zeigen. Dabei ist ihre Kunst keine naturalistische. Die Drehungen und Gebärden der Drachen sind unmöglich und zugleich die einzig stimmigen. Mir fehlt es an Vorstellungs-Kraft, den Verlauf der Rückenkämme auch nur zu verfolgen und als Einheit innerlich zu schauen — welche Phantasie war da nötig für den Entwurf: denn als ein Wurf erstrahlt das Ganze bis in die Reichtümer des Details. Man sieht sich nicht satt daran.
Der nordische Drache hatte keine Muße, so geschmeidig zu werden, ich will gern glauben, und es gibt Belege dafür, daß er ursprünglich einen Ehrenplatz einnahm, wie ihn sein östlicher Bruder noch heute innehat. Aber bald schon wurde er zum Feind erklärt, der zu vertilgen sei. Natürlich ist er nicht umzubringen. Er geht nur aus der Sichtbarkeit in die Sage über. Er verläßt die Bildersäle, die Felsen, die Reliefs — er erscheint als Ganzes allein im Traum. Sein Leib löst sich in die Elemente auf, er wird zerstückelt und fragmentiert, doch jede Reliquie spricht noch von dem Zauber, der einst von ihm ausging. Wer von seinem Blute trank, dem wurde die Vogelsprache kund und die Gabe der Weissagung zuteil. Mein Lieblings-Märchen aus der Sammlung der Gebrüder Grimm war das von den zwei Brüdern. Ich konnte es nicht oft genug hören. Es gipfelt in der Szene, wie der Held aus den sieben Drachenhäuptern, die er abschlug, die Zungen herausschneidet, dann wickelt er sie in ein Tuch „und verwahrt sie wohl“. Wer weiß, wo sie geblieben sind, und ob sie nicht wieder zu sprechen beginnen.
aus: Freundesgabe, S. 11————
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